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Svetlana Zunder: 'Engel', 2004

Svetlana Zunder: Engel, Pastell auf Papier, 2004

Die einsame Wacht

Und so schien es ihm wirklich zu sein, daß die Menschen schliefen, während sie gingen, saßen, Auto fuhren, Zeitungen lasen oder einkauften.

   Er bewegte sich durch Innenstädte voller Bewegungen wie ein Slalomfahrer, wich ständig stur Geradeausgehenden aus, und sah in Gesichter, die ihn nicht wahrnahmen.

   Im Supermarkt sah er Menschen, die schwer beladene Einkaufswagen vor sich herschoben, und mit müden Augen die endlosen Reihen der Waren fixierten, um sich hin und wieder mit geübtem Griff zu bedienen.

   An der Kasse sah er sie in Schlangen stehen, stumm und sich voneinander abgrenzend, ihre zappeligen Kinder maßregelnd, mit Bergen von Waren und trotzdem nicht zufrieden, so, als könnten sie nicht mehr ermessen, was Hunger und Essen bedeutet.

   Auf den überfüllten Parkplätzen sah er, wie die vielen Dinge mit ihnen in ihren Autos verschwanden, und wenn die spiegelnden Fenster einen Blick ins Wageninnere zuließen, sah er merkwürdig steinerne Gesichter, die sich auf ein fernes Nirgendwo konzentrierten.

   An einer Fußgängerampel wartete eine alte Frau auf das grüne Lichtsignal vor einem endlosen Fluß von Motoren und Chrom umgebenen Menschen, die sich sitzend fortbewegten.

   Für einen Moment fühlte er sich eingehüllt und stumpfgerieben von all dieser Bewegung und den unharmonischen Geräuschen, und er dachte an ein unheimliches Meer, das sich langsam mit stahlgrauen Wassern in ein flaches grünes Land ergießt, und wie ein Radiergummi die vielen Farben auslöscht, bis alles wieder leer und ursprünglich ist.

   So setzte er seinen Weg fort durch die Häuserschluchten, blieb an einem Baum stehen und dachte, die Menschheit produziert Einsamkeit, die Quintessenz all ihrer Energie, und dieser, wie ein verlorener Fremdkörper dastehende Baum hatte vor langer Zeit eine Familie, die wir Wald nannten und in deren Schutz die frühen Menschengenerationen lebten. Aus dem Kontext geschleudert, in die Verlassenheit entlassen, funktionierend wie ein Ding in der Mechanik der Gewohnheiten – so dachte er, als er vor diesem Baum stand.

   Aus den Kneipen flog ihm sediertes Gemurmel, vermischt mit Schlagermusik, entgegen. Er ging an ihnen vorüber und merkte, daß es Abend geworden war.

   Die schmalen Gehwege, die von breiten Autotrassen an die Ränder gequetscht wurden, leerten sich zunehmend, also schlossen die Geschäfte, und die große Flucht begann – in den vagen Schutz der Räume, vor die Monitore und danach in die Betten, wo Träume mit Gewohnheiten Ping Pong spielten.

   Er sah von Vorhängen und Rolläden erblindete Fenster, hinter denen sich schemenhaft etwas bewegte, sah den unruhigen weißblauen Schein der Fernseher, und ging weiter. Scheinwerfer warfen ihm Klingen aus Licht in die Augen, und ließen ihn in einer Tinte aus Dunkelheit zurück.

   Zusammenziehen, ausweiten, zusammenziehen, ausweiten – dieses aufgenötigte Wechselspiel seiner Pupillen ließ ihn an Schlaf denken, an jenen alten Balsam der Stille, doch die Wenigsten, die an Schlaf denken, sind müde. So auch er – also ging er weiter, und entdeckte zwischen den Lichtern der Häuser und der Straßen ein dunkles Karree, und als er näher kam, stand er vor einem großen, eisernen Tor, hinter dem ein Friedhof lag. Er öffnete die Pforte und trat aus dem Schein der Lichter in eine lauernde Dunkelheit, die ihn umschloss und unsichtbar werden ließ. Pflanzenhände berührten ihn, doch nach einer Weile gewöhnten sich seine Augen an die Lichtarmut, und er sah Baum- und Strauchsilhouetten und Grabsteine, die wie riesige Zeigefinger aus der Erde ragten. Eine Oase des Friedens in einem Meer aus falschem Licht.

   Hinter dem Gewirr alter Baumkronen sah er einen Mond, der sein von der Sonne entliehenes Licht dieser nächtlichen Erde schenkte und mattes Silber auf die Szenerie goß. Aus der Ferne hörte er die Bran­dungsgeräusche des Verkehrs, die hier zum Hintergrund degradiert wurden, so, als würden schwächer werdende Erinnerungen als sphärische Winde hinter einer zeitlosen Kapsel wehen. Er hörte einen Nachtvogel rufen, und es kam ihm so vor, als wenn der Vogel, die Bäume, die Gräber und er selbst miteinander vernetzte Asylanten der Nacht wären.

   Wie er so durch den düsteren Park ging, fühlte er sich, als schwebe er zwischen Traum und Wachen, und eine tiefe Ruhe bemächtigte sich seiner.

   Seine Sinne wandelten in einem halluzinogenen Kraftfeld, in welchem sie mit atemberaubender Klarheit agierten. Er hörte die Verdauungsgeräusche der Erde – die Metamorphosen – die humusbildende Maschinerie unsichtbarer Geschöpfe, den vibrierenden Puls der Zersetzung und der Neubildung. Er wähnte sich in einer nächtlichen Zirkusvorstellung elementarer Kräfte, sah die Strukturen des am Tage Unsichtbaren sich verdichten und verflüchtigen, sich neu formieren und auseinanderbrechen, sah die Partikeltänze im stochastischen Rhythmus wirbeln, sah die Zeit atmen in dieser Nacht, die ihm Trost und Droge war.

   Durch diesen Blütenrausch seiner Empfindungen lief er schwerelos, wie in fernen Kindertagen, über die knochenreiche Erde, auf einen dunklen Engel zu, dessen Gestalt ihm Einhalt gebot. Dieser Engel war eine aus der dunklen Blässe des Himmels gemeißelte Schwärze, die hoch über ihm aufragte, den Kopf in den Sternen gebettet. Vor dieser geflügelten Menschengestalt verharrte er – Fleisch vor Stein – Kreatur vor Symbol – in der alles auflösenden Kraft dieser Nacht.

   „Was verkörperst Du ?“ fragte er. „Was verkörperst Du ?“ fragte der Engel zurück. „Das sollte man den fragen, den sie Gott nennen“, antwortete er. „Also frag mich nicht, mein Gott ist einer, der nicht darum wußte und sich Mensch nannte“, antwortete der Engel. „Nenne mir den Grund meiner Form; denn sie entspricht nicht dem Ursprung meines felsigen Daseins“, sprach der Engel. „Du bist das Werk eines Bildhauers und verkörperst einen Engel, eines jener Geschöpfe, die in der christlichen Saga unseren Himmel, also den Ort, den wir nur durch das Tor des Todes betreten können, bevölkern“, antwortete er. „Also bewache ich Eure Hoffnung“, sprach der Engel. „Bevor ich Dich sah, hatte ich sie“, antwortete er. „Jetzt macht mich Dein Anblick nur traurig.“ „Ich bin ein Fels, meine Form wird durch Erosion gemeißelt, meine Späne treiben über Flüsse in ein Meer, und Sturm bläst sie über die Strände ans Land zurück, wo sie abgelagert werden, sich verdichten, von Flüssen durchbrochen werden und wieder als Felsen ein Teil der Morphologie dieses Planeten werden – ist das traurig?“ entgegnete der Engel. „Nein, Veränderung ist mir Trott“, antwortete er, „aber Du bist gegen sie erschaffen worden, als anmaßende Manifestation eines erdachten Weltbildes, das längst verschwunden ist. Du stehst hier nicht als moosumschmiegter Fels, sondern als Relikt einer alten Macht.“ „Scheußlich, aber nicht zu ändern“, erwiderte der Engel lakonisch, „welches Weltbild hast Du Dir erdacht, gibt es darin keine Engel?“ „Ich besitze keines mehr“, antwortete er, „ich lebe von der Hand in den Mund, vom Verstand in das Gefühl, von der Verwirrung in die Ordnung, vom Chaos in den Frieden, vom Wachsein in den Schlaf.“ „Dann bist Du aus dem Fels gehauen und in die Verlassenheit gestellt worden, so wie ich“, sprach der Engel, beugte sich zu ihm herunter und schlang seine großen Flügel um seinen Körper. „Komm Bruder, schlaf in meinem Gefieder aus Stein, atme die Kieselsäure meines Trostes, laß Dich durch das Magma Deiner Zweifel fallen – sieh nur, im Osten fängt eine Sonne an zu blühen, deren Licht uns wieder entfremden wird; dann werden hier alte Männer und Frauen ihre Gram in Gießkannen füllen und verloren durch die Planquadrate der Totenstätten wandeln und nicht ahnen, daß ihre Städte die wahren Totenstätten sind, in denen sie sich freiwillig, bei lebendigem Leibe begraben lassen haben.“

  So, endlich, schlief er im schattigen, steinernen Gemurmel der Statue ein, und hörte nicht mehr den Ruf des Gartenrotschwanzes, der sich auf den Kopf des Engels gesetzt hatte, und, einer millionenjahrealten Tradition folgend, den heraufdämmernden Morgen begrüßte.                                              Gerhard Pautz