Thomas
Illmaier
DIE MACHT DER GEWOHNHEIT
Wir denken an eine Mutter, die ihr Kind zur Welt bringt.
Der Geburtsvorgang ist aber viel weiter zu fassen und zu beobachten im Reich
der Natur. Alles wird ja irgendwie geboren. Es kommt zur Welt. Wenn wir den
Geburtsvorgang noch etwas weiter fassen, so sind es auch Gedanken, Ideen,
Gefühle, Ahnungen, die geboren werden. Auch die kommen zur Welt. Der
Geburtsvorgang ist also im Sinne des Wortes ,,zur Welt kommen“ ein sehr
weltlicher Vorgang. Ob wir in das Reich der Natur oder ins Reich des Geistes
schauen, es ist ein und derselbe Vorgang: Geburt oder das Kommen zur Welt.
Was aber ist Welt? Welt ist allgemein das, was in Erscheinung tritt. Die Form
jeder Erscheinung ist Licht, worin uns jede Erscheinung oder, was dasselbe
ist, das Phänomen entgegenleuchtet (Phänomen von griech. phos =
Licht). Das Gesetz jeder Erscheinung ist also das Licht; denn im Licht muß
sich etwas setzen, um Erscheinung zu sein. Wenn der biblische Evangelist Paulus
sagt: “... alles, was offenbar wird, das ist Licht.“ So hat er
mit diesem Satz das Gesetz von Welt überhaupt, dem Reich der Erscheinungen,
zum Ausdruck gebracht, ob wir es nun für göttlich halten oder nicht.
Was ist nun die Form aller Erscheinungen, das Licht? Es ist die reine Form, die uns erscheint. Andere ,,Formen“ gibt es nicht. Form begrifflich
betrachtet, ist die dunkel bewußte Figur, deren Reinheit mit ihrer Geometrisierung
wächst. Reine Formen sind demnach geometrische Figuren. Wenn die erscheinen,
setzt sich das Licht: Die Erscheinung erscheint. Nun sind Licht, Erscheinung,
reine Form und geometrische Figuren Phänomene; sie sind Synonyme des
Geborenseins, des Seins schlechthin. Dieses Grundwort Sein oder, was dasselbe
ist: Das Licht ist der Standpunkt des abendländisch christlichen Geistes
und seiner Welterfahrung. Wir erkennen seinen Rang, weil sein Standpunkt beschränkt
ist. Er ist nicht absolut und damit auch nicht frei. Er bleibt gebunden an
die Welt der Form, die rein erscheinungsmäßig ist. Ihr Maß
ist das Licht, die reine Form, das geometrische Gesetz. Das sind die Insignien
der Herrschaft Gottes, das Szepter seiner Welt.
Als der Buddha starb
und seinen Formkörper verließ, ging er ins Parinirvana ein, d.
h. in einen Bereich jenseits des Lichts, darin Begriffe wie Form oder Nichtform
nicht nur ihre Bedeutung verlieren, sondern aufgelöst sind. (Nichtform
ist ein obwohl ungenauer so doch ein Begriff, nämlich eine Vorstellung
des Geistes, die gegen den Begriff der Form abgesetzt scheint. Tatsächlich
verhält sich der Begriff Nichtform zu Form wie Form zu Figur. Letztere
scheint am intensivsten dem Geist als Bewußtsein eingeprägt zu
sein.) Eine begriffliche Beschreibung von Parinirvana ist nicht möglich,
weil jeder Begriff den Formaspekt der Dinge betont. Begriffe sind nichts als
geometrische Projektionen, die exakt die Welt der Erscheinungen definieren,
indem sie die Erscheinungen als solche in ihren Grenzen als Dinge aufleuchten
lassen. Deshalb kann Parinirvana, weil es kein Ding ist, auch niemals durch
Begriffe ermessen werden. Pannirvana wird jenseits von Form oder Nichtform,
jenseits von Begriffen erkannt. Parinirvana ist auch kein Bild! Bilder sind
spektrale Auslegungen des luziden Formaspekts des Geistes und seiner geometrisierenden,
gebärenden Natur.
Die Welt ist bis
in ihre feinsten Verästelungen hinein und für das menschliche Auge
schon nicht mehr sichtbaren Form reinste Lichtnatur. Die Welt ist eine reine
Erscheinung. Was die Welt im Innersten zusammenhält, sind unsere Projektionen.
Das sind unsere geometrischen Konzepte, Begriffe also, mit denen wir die Lichtnatur
des Geistes zur Welt verdinglichen. Mit der Strahlkraft unserer Projektionen
nimmt der Dingcharakter ,,Welt“ zu. Je stärker, je intensiver wir
projizieren, desto besser begreifen wir die Welt; denn indem wir sie begreifen,
tritt die Welt in ihren reinen, typischen Formen hervor. Die technische Welt
ist der überzeugendste Audruck dieser Projektionen, die Schlag auf Schlag
die typische Gewohnheit des Geistes erhellt, zu projizieren und sein gesamtes
Potential in der Lichtwelt reiner Formen zum Ausdruck zu bringen. Wo sich
die Projektionen häufen, entsteht der Eindruck einer festen, materiellen
und soliden Welt, deren Erscheinung uns blendet. Die Welt wird zum Begriff.
Projektion ist Überzeugung. Jede technische Landschaft überzeugt
uns durch ihren geometrischen Stil, der in ihr besonders rein zum Ausdruck
kommt. Die Technik ist erleuchtet und ein gutes Beispiel dafür, daß
an Orten, an denen die geometrischen Projektionen und mit ihnen der dingfeste
Begriffscharakter Welt zunehmen, die Lichtnatur des Geistes nicht mehr überzeugen
kann. Es sei denn, wir leugnen harte Strahlung, sie sei für uns gefährlich,
einfach ab. Was wären und was sind sich wandelnde Formen in einer Welt,
die in ihrer geometrischen technischen Erscheinung, ihrem typischen Lichtcharakter
also, immer mehr erstarrt? Was dann Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes
ewige Unterhaltung? Was Metamorphosen? In unserer geometrisch technischen
Landschaft gibt es Spiegelungen, Unterspiegelungen, Uberspiegelungen, Interferenzen,
Wiederholungen kurz, deren Verlöschen noch nicht abzusehen ist. Der Geist
ist nämlich ein rhythmischer Spiegel. Er gibt den rhythmischen Impuls,
der die Formenwelt erzeugt. Jede Gestalt, jede Welt ist der visualisierte
Rhythmus des Licht projizierenden Geistes. Was scheinbar wächst, wird
Schlag auf Schlag in immer schnelleren Rhythmen in jedem Augenblick und immer
wieder neu erzeugt. Interferierende Rhythmen bilden die Landschaft –
die erleuchtete Landschaft des Geistes. Formen entspringen spontan. Sie sind
wie Erinnerung. Einmal entsprungen, aber kehren sie wieder.
Das Setzen von Formen
und damit von Welt überhaupt beweist uns das. In diesen reinen Formen
drückt sich etwas aus, nämlich die Tendenz des Geistes in seiner
All umfassenden Gewohnheit. Die Gewohnheit ist das Maß geistiger Macht.
Im Universum herrschen reine Formen. Betrachten wir unsere Weltarchitektur
im Großen wie im Kleinsten, so scheint das auch zu stimmen. Wir sind
es oder der Geist durch uns, die wir diese Gewohnheitsprojektionen noch verstärken,
die als technische Landschaft zu uns sprechen. Die Pyramiden der Moderne,
der gigantische Stil eines Todeskristalls, in dem wir anstreben zu hausen,
das ist die Gewohnheit des Geistes, sich in reinen Formen einzurichten. Diese
Gewohnheit ist nicht nur eine Macht, sondern das exakte Maß unserer
Knechtschaft, die immer Leiden mitsichbringt für alle Kreaturen; denn
nicht anders als unter dem Gesetz, dem Licht der Welt, sind wir angetreten.
Das heißt in projizierter Form des Geistes, zu existieren oder förmlich
zu sein.
Es geht nicht darum,
eine Gewohnheit gegen eine andere Gewohnheit des Geistes zu vertauschen. Nicht
Form gegen Form (oder Nichtform). Es geht nicht darum, daß die Lämmer
bei den Löwen liegen, wie es die Apokalypse prophezeit. Ja, selbst wenn
wir das Wunder vollbrächten, Flüsse aufwärts strömen zu
lassen oder wie der Yogi Milarepa durch Wände zu gehen: Um Wunder der
Natur g e s e t z e geht es nicht. Bleiben wir doch schlechthin im Bilde,
das die Welt nun einmal ist.
Um wirkliche Freiheit, endgültige Freiheit jenseits von Begriffen und
Vorstellung zu erlangen, wagte der Buddha den Bruch mit den Gewohnheiten des
Geistes, immer wieder neu Form anzunehmen, sich zu verkörpern, geboren
zu werden und durch Bindung an Form, Vorstellung und Begriff Leid zu erfahren.
Um die Tragweite dieses Bruchs zu erkennen, wollen wir uns vergegenwärtigen,
was der Träger, die Basis des Existenzkreislaufs von Geburt und Tod,
aus dem der Buddha ausbrach, eigentlich ist. Die traditionelle Darstellung
des Kreislaufs von Geburt und Tod ist das Mandala. Das Mandala ist eine Grundform
der Lichtnatur des Geistes und bietet sich in reinen geometrischen Formen
dar. Der Schlüssel zur Geburt scheint also darin zu bestehen, die Grundform
des Mandalas zu projizieren, auf dessen Basis sich der Geist scheinbar in
einem unendlichen System bewegen kann, nämlich immer im Kreise. Darin
besteht der Vorzug des Weltalls, wie es Einstein entwarf. In Einsteins Universum
herrschen die Gesetzte des Lichts, die Geometrie und die Endlichkeit. Sein
Weltall ist eine Kugel. Wirkliche Freiheit kann es nur jenseits von Licht
und Form, jenseits von Mandala und Kugel geben, in deren Systemen der Lichtmythos
herrscht. Das Licht ist allerdings die Schranke, die wie jede Gewohnheit fast
unüberwindbar ist. Und wird sie einmal überwunden wie z. B. die
Lichtgeschwindigkeit, dann kehren sich die Verhältnisse nur um, aber
sie lösen sich nicht auf. Darin besteht eben das Grundübel, ob nun
in der Kugel oder im Mandala: Die Kreatur bleibt gefangen. Aus diesem Grunde
bricht der Buddha mit dem unendlichen System, der Macht der Gewohnheit, immer
wieder neu Form anzunehmen und damit den Projektionen des Geistes zu verfallen.
Der Buddha geht jenseits von Form, Licht und Erscheinung, worüber er
,,erhaben“ ist, aber er ist nicht ,,erleuchtet“. Erleuchtung ist
ein christliches, kräuterhaftes und nachgerade technisches Verständnis
vom wahren Bruch des Buddha.
Der Geist mag noch
in Rhythmen beben, doch hört er auf als Demiurg, als Schöpfer und
Formgeber auf, Welten zu erschaffen, schafft er einzig und allein leere Intervalle,
und wir erkennen die wahren Rhythmen der Befreiung wie beim Lachen und anderen
Notwendigkeiten. Echte Aufschließungen, wahre Erlösungen kündigen
sich an, indem wir aufhören, mit den Rhythmen der Befreiung irgendwelche
Assoziationen zu verknüpfen. Der Geist begreift nicht mehr, sondern er
erkennt. Er hört auf, weder Formen, noch Rhythmen ,,zu setzen“,
sondern löst sie auf. Wir korrespondieren nicht mehr mit dem Geist als
dem Spiegel, der Form alles dessen, was ist. Dann löst sich das Spiegel-Selbst
auf. Es treten keine Phantasmen, keine Schwarzlichter; weder Schatten noch
Licht mehr auf. Ohne Projektion keine Wahrnehmung mehr. Jenseits von Wahrnehmung,
dem sicheren Haften am gewohnheitsmäßigen Projizieren von Welt-Form
in Permanenz, beginnt sich das Spiegel-Selbst aufzulösen: Die Wahrheit
ohne das Leiden, das Wehgeschrei von Geburt, die immer leidvoll ist. So treibt
der Geist aus seiner Beschränkung durch Gewohnheit, Rhythmus und Form
hinaus.
Die Wahrheit nicht
nur zu erkennen, sondern zuzuerkennen, heißt, den Geburtsvorgang zum
Stillstand zu bringen. Nichts wird geboren. Wahres Erkennen ist nicht eine
Auslösung, sondern eine Auflösung des Geburtsvorganges. und es ist
der letzte Akt. Jenseits von Bildern und Formen beginnt erst die Wahrheit
als das nicht Wahrnehmbare. Der Weg führt nur bis an die subtile Scheide
zwischen Dingen und Wahrheit-Freiheit und Gewohnheit. Am Absolutum überall
und nirgends haftet niemand, kein Buddha, kein Nichts.
Bild: Sonnenstrahlen im Elektronenmykroskop.
Bodhi Baum, 4/5 1986, S. 200-202.
Das Original setzt dem Text einige Stanzen von Nagarjuna voran:
If an element (dharma) occurs which is neither real nor non-real nor both
real-and-non-real,
How can there be a cause which is effective in this situation?
No dharma anywhere has been taught by the Buddha of anything.
Emptiness is proclaimed by the victorious one as the refutation of all viewpoints;
But those who hold “emptiness” as a viewpoint – (the true
perceivers) have called those “incurable” (asdadhya).
To him, possessing compassion, who taught the real dharma
For the destruction of all views – to him, Gautama, I humbly offer reverence.
Nagarjuna: Mūlamadhyamakakārikās
Übersetzungen
- The Force of Habit. Transl. by Ralph Clark. In: Eleusis. SISSC Information
Bulletin. Italian Society for Study of States of Consciousness, Nr. 6/Dec.
1996, S. 14-19.
- La forza dell’ abitudine. Traduzione italiana a cura di Luciana Polidoro
& Giorgio Samorini. In: Eleusis. Bollettino d’Informazione SISSC.
Società Italiana per lo Studio degli Stati di Coscienza, Nr. 6/Dic.
1996, S. 14-19.