Nicholas RoerichWAHNSINN UND GENIE

Künstler haben die Zeichen der Zeit oft vorausgesehen, besonders wenn die Katastrophe nahte. Für den ehemaligen Rechtsanwalt und späteren Maler Wassilij Kandinsky gehört es geradezu zum Rang eines Künstlers, daß er die Zeichen der Zeit voraussieht wie ein Prophet und daß Zukünftiges in seinem Werk herauszulesen ist. Große Bilder wirken darum auch jahrhundertelang. Sie haben jeder Generation etwas zu sagen, jede Generation lernt von ihnen, was die Zukunft bringt.
Nicholas Roerich (1874-1947), einer der bedeutendsten spirituellen Maler des 20. Jahrhunderts, erkannte sehr genau, was atmosphärisch in der Luft lag: „Als der Zweite Weltkrieg näherrückte, hatte Roerich dieselbe Vorahnung wie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg“, schreibt seine Biographin Jacqueline Decter. Sein Gemälde „Armageddon“ aus dem Jahre 1936 zeigt visionär die bevorstehende Katastrophe an. Mythenschwer beladen ist dieser Name ohnehin: Armageddon, die Stadt, ist schon in der Bibel (Off. 16, 16) das Symbol für die in Feuer und Blitz untergehende Zivilisation und immer wieder zum Bild von wahnwitziger Hybris und schmählichem Untergang geworden. Roerich sah das voraus. Was der Krieg an Schrecken, Schaden und Verlust brachte, davon machen wir Nachgeborenen uns gar keine Vorstellung mehr.
Betrachtet man die Zeit im Rückblick, so ist die Kunst stets ein Wegweiser durch das Bewußtsein des Menschen, das in sensibler Weise in die Zukunft sehen kann. Vor dem Ersten Weltkrieg, der die dynastischen Reiche in Schutt und Asche legen sollte, Deutschland in die Revolution und die Arme Hitlers trieb und Rußland in die stalinistische Barbarei, sahen die Künstler des Expressionismus lange voraus, was sich am Horizont der Zeit verdichtete. Ihre Kunst zerschlug die alte Formenwelt: Abstraktion, leuchtende Farben, Sexualität und Rausch hießen ihre neuen Werte. Die Kunst, so formulierte Kandinsky, darf alles, wenn der Künstler dazu die „innere Notwendigkeit“ verspürt. Die aus den Fugen geratene Kunst war aber nur ein Vorgeschmack auf die aus den Fugen geratene Welt!
Nach dem Ersten Weltkrieg beruhigte sich das Gemüt, weil es Hunger hatte. Keine Experimente. Die Kunst zeigte „Würstchendosen“ als „magischen Realismus“, feine und gerade Linien der eben erst geborenen „Neuen Sachlichkeit“. Doch hatten der Krieg und die Revolution einen Dammbruch verursacht, der inmitten von Anarchie und Terror der Zwanziger Jahre der Kunst wie dem Bewußtsein des Menschen ungeahnte Chancen bot. Deformation, Aufbruch in eine neue Formenwelt - das trieb sich wie eine Botschaft umher als eine gemeinsame Gesinnung und erfaßte mit ihrer Hoffnung und Religiösität selbst die bodenständigste aller Künste, die Architektur. Man wollte, wie Walter Gropius, „die Kathedrale der Zukunft“ bauen. Aus dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind wunderschöne Entwürfe (nur zum Teil ausgeführt) von namhaften Architekten wie Max Taut und Hans Scharoun erhalten geblieben, die an „Flowerpower“ schon alles vorwegnehmen, was sich dreißig Jahre später an der Westküste Amerikas, in Californien, ereignen sollte. Der Architekt Hermann Finsterlin (1887-1973) schuf psychedelische Architekturen, deren Stilelemente noch auf Plattencovers der 70er Jahre wiederkehren, wie etwa in den Plattencovers der Blue Cheer und ihrem Album „Outsideinside“.
In dieser Zeit der Zerstörung und des aus den Fugen geratenen menschlichen Bewußtseins forderte der Dichter und Arzt Gottfried Benn (Hanf! 12/1997), Meskalin und Haschisch zur Heilung und Inspiration der „denaturierten europäischen Gehirne“ zu verschreiben. Das konnte er, wenn auch nicht öffentlich, so aber doch in der Diskussion im kleinen Kreise. Morphium war damals nicht so tabu wie heute. Hermann Göring, Hitlers Reichsmarschall und Endlöser der Judenfrage, der auf Hitlers Weisung Reinhard Heydrich den Auftrag zur Organisierung der Endlösung gab, war selbst Morphinist. Gottfried Benn dichtete munter seine von Drogen und Rausch inspirierte Lyrik. Ein Kritiker nannte ihn, „einen Parzifal mit dem Kokainlöffel“, „die Welt als den objektiven Geist in der Morphiumspritze sehend.“ So weit konnte man sich nur hinauswagen, weil die Zwanziger Jahre gesellschaftlich und bewußtseinsmäßig goldene Jahre schrankenloser Freiheit waren. Das eben brachte die Kunst, von der Lyrik bis zur Architektur zum Ausdruck.
Sich aus Krise, Krieg und allem Leid des hereinbrechenden 20. Jahrhunderts zu befreien, sahen viele in den Visionen der Technik ihr Heil. Technische Apparate, Flugzeuge, Panzer natürlich, Maschinen und die sich rasant entwickelnde Medienwelt - diese Visionen hatten alsbald „die Himmlische Stadt“ der Bibel, wie sie das Paradies schildert, ersetzt, aber nicht überwunden. Denn jetzt wurde das Paradies eben mit Radio und Telefon ausgestattet.
Dieser Impuls der technischen Vision hält bis heute an. Jeder größere Fabrikant hat heute, wenigstens auf der Chefetage, exklusive Kunst zu bieten, um seine Technik und den Raubbau an der Natur ästhetisch zu verschönern. Reklame verstellt uns heute vielfach die Sicht auf die Wirklichkeit. Fremde Völker glauben allen Ernstes: Die Reklamewelt sei unsere wirkliche Welt. Und viele im eigenen Lande, die es besser wissen müßten, folgen dem Klischee.
Der Rückblick auf dieses Jahrhundert wird in der Kunst einen treuen Gefährten und einen Spiegel der Realität wiedererkennen. Der Wahnsinn hat stets auch geniale Züge, nirgends besser als in der Kunst kommt das besser zum Ausdruck.
Der Ausgriff über Menschenmaß hinaus lebte in der Architektur des Expressionismus in den goldenen Zwanziger Jahren. Begehrtes Ziel der revolutionären Baumeister war erklärtermaßen vor allem Indien. Adolf Behne, der Hochschularchitekt, im Dritten Reich mit Lehrverbot belegt, schrieb begeistert: „Das Letzte, das Höchste der Architektur... ist das Bauen, das alle menschlichen Grenzen durchbricht, das vor den Menschen eine große Wunderform errichtet, in deren Herrlichkeit und Größe die Menschen hineinwachsen. Ein Werk, das der verkörperte Wille der Menschen zur Weltenliebe ist. Ein solcher Gedanke ist keine Utopie. Es stehen auf der Erde derartige Bauten - die indischen Tempel.“ Natürlich: „Ewig“, so Behne, „kommt das Licht aus dem Osten.“ Bruno Taut, der vor den Nazis in die Türkei flüchtete und dort Karriere machte, schrieb in seiner Denkschrift „Ex oriente lux“ (Licht aus dem Osten) über den indischen Tempel: „Kantige straffe Lagerung, schwere starkweiche Massigkeit, ungeheures Himmelauftürmen und allerzarteste Feinheit - Rausch!“ Hans Scharoun ging von der Kolossalstatue eines Buddha aus und entwarf daraus einen Tempel, der sich öffnet wie die Lotusblüte selbst, in dem das Volk einer Gemeinschaft Platz haben sollte. (Erst von den Nazis wurde der „Volkshausgedanke“ pervertiert.) Und man fand, wie Hans Poelzig das formulierte, immer, wenn sich die Deutschen vom Westen abwendeten und sich der Mystik des Ostens öffneten, seien sie stärker und eigener geworden.

Thomas Illmaier

In: Zschr. Grow, 1/2001, S. 18-19.

Bilder

1: Nicholas Roerich: Armageddon, 1935-1936.
2: Uriel Birnbaum: Die Erscheinung der himmlischen Stadt, 1921-22.
3: Max Taut: Blütenhaus, 1921.
4: Rudolf Schwarz: Gloria, 1923


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