Die
Weinreb-Liste: Kollaboration und Widerstand
Spiel mit dem Teufel
Von THOMAS IILMAIER
Steven Spielbergs Film ,,Schindlers Liste“ sahen Millionen
Menschen. Von Friedrich Weinreb spricht niemand, obwohl er als Jude das Unglaubliche
fertigbrachte, daß zweimal ein Deportationszug mit holländischen
Juden leer nach Auschwitz fuhr. Friedrich Weinreb, Ostjude aus L,emberg, täuschte
die Nazis in großem Stil, indem er während des Zweiten Weltkrieges
die nationalsozialistische Besatzermacht in Holland, namentlich die Wehrmacht
und den Sicherheitsdienst (SD), geschickt gegeneinander ausspielte.
Das ganze begann
mit einem Zufall. Ein Freund Friedrich Weinrebs hatte sich in Den Haag auf
dem Arbeitsamt eingefunden, weil er einen Aufruf zum sog. ,,Arbeitseinsatz
im Osten“, also den Deportationsbefehl, erhalten hatte. Er wollte Aufschub
erlangen und wurde abgewiesen, aber er erlebte, wie ein anderer Jude mit demselben
Anliegen Erfolg hatte. Dieser Mann zeigte einige Urkunden vor, aus denen hervorging,
daß er im neutralen Ausland Devisen für Deutschland zur Verfügung
stellte und daß er aus diesem Grunde wahrscheinlich die Erlaubnis zur
Emigration erhalten würde. Der zuständige Beamte sah die Dokumente
kurz an, nickte „Jawohl, jawohl“ und meinte, daß in diesem
Fall selbstverständlich Aufschub gewährt würde, damit von den
Deutschen zunächst das Emigrationsersuchen geklärt werden könne.
Der Mann wurde für ein halbes Jahr von der Deportation zurückgestellt,
mit Aussicht auf Verlängerung.
Als Prof. Weinreb
diese Geschichte hörte, beschloß er, mit dem Bezirksarbeitsamt
zu telefonieren., „Improvisierend“, wie er in seinen Memoiren
schreibt, „das Gespräch würde sich schon entwickeln.“
Das Gespräch entwickelte sich in der Tat. Weinrebs resolutes Auftreten
machte Eindruck. Er verlangte sogleich den Chef zu sprechen, der für
die Verschickung von Juden zuständig sei, und stellte sich diesem mit
größter Selbstverständlichkeit als Dr. Weinreb, Fachmann für
jüdische Emigration, vor. Seine profunden Kenntnisse in wirtschaftlichen
Dingen kamen ihm zugute. „Der Mann war beeindruckt“, schreibt
Weinreb. „Ich erzählte ihm, daß verschiedene meiner Fälle,
die ich bei der Ein- und Ausreisestelle verträte, in Arbeitslager für
Juden verschickt werden sollten, daß jedoch die Wehrmacht dies nicht
wünsche, da diese Personen gegen Devisen ins Ausland emigrieren sollten.“
Weinreb hatte Erfolg, die von ihm genannten Personen wurden gesperrt.
Bald bekam der Jüdische
Rat Wind von der Sache, dem die Deutschen die Aufgabe zugewiesen hatten, die
Deportationstermine einzeln festzulegen. Der Rat erwähnte die Angelegenheit
einmal gegenüber dem Sicherheitsdienst. Eine Wehrmachtsangelegenheit?
Der SD gab nicht gern seine Desinformiertheit zu, der zuständige SDler
meinte nur: „Weinreb? Devisenemigration? Oh, die ist prima. Wir brauchen
Devisen, bestimmt wird das klappen.“ Langsam entstand eine immer komplexere
Konstruktion. Natürlich mußte ein General in Berlin für das
ganze zuständig sein. General Hans Joachim von Schumann. Ein Papiergeneral,
aber er funktionierte. Weinreb fälschte Papiere und fingierte einen Brief
des Generals. Der SD ließ ihn in Ruhe.
Als 1942 die Deportationen
begannen, wurden die. Juden nicht mehr aufgerufen, sondern einfach abgeholt.
Weinreb hatte zu dieser Zeit 30 Menschen auf seiner Liste. Die Deportierten
kamen zunächst ins Auffanglager Westerbork. Von dort aus erreichten Weinreb
Telegramme, Hilferufe. Und Weinreb telegraphierte, bestätigte Sperrungen
– und hatte Erfolg. Die von ihm Genannten wurden nicht weiterverschickt
nach Auschwitz. Niemand wußte damals, was Auschwitz bedeutete, aber
man fühlte, daß es sicherer war, zu bleiben.
Weinreb riet den
Juden, sich nicht auf seine Sperrungen zu verlassen, sondern so schnell wie
möglich unterzutauchen, half bei der Beschaffung von Verstecken, Ausweisen,
Geld.
Irgendwann wurde auch dem SD klar, daß es General von Schumann nicht
gab. Weinreb war jedoch so glaubwürdig, daß man annahm, er sei
auf eine Verschwörerbande hereingefallen, die das Reich untergraben und
sich bereichern wolle. Der SD schlug Weinreb vor, die Fronten zu wechseln,
und er ging darauf ein. Es gab also weiterhin Einschreibungen auf der Weinreb-Liste,
jetzt legal, mit Wissen des SD. Der Auftrag des SD an ihn lautete, von Schumann
und andere Verdächtige anzulokcken und auszuliefern. Weinreb ließ
tatsächlich – und dies mit Wissen des SD – 1500 Personen
sperren. In zwei Fällen mußten deshalb Deportationszüge leer
nach Auschwitz fahren. Daß dieses Spiel mit dem Teufel nicht lange gutgehen
konnte, war ihm klar. 1944 wurde er gewarnt und konnte im letzten Moment untertauchen.
Weinreb rettete mehreren
hundert Menschen das Leben. Seine Kriegsmemoiren erschienen in Holland unter
dem Titel „Kollaboration und Widerstand“ (deutsche Ausgabe: „Die
langen Schatten des Krieges“), ausgezeichnet mit dem Literaturpreis
der Stadt Amsterdam. Sie erregten ein solches Aufsehen, daß Weinreb
es vorzog, außer Landes zu gehen. Er starb 78jährig 1988 in der
Schweiz.
Friedrich Weinreb
war nach dem Kriege als Wirtschaftswissenschaftler und Fachmann für mathematische
Statistik im Auftrag der UNO und des internationalen Arbeitsamtes tätig.
Sein Hauptinteresse galt jedoch dem religiösen Judentum. Erstmals ungekürzt
erscheint sein Hauptwerk, „Schöpfung im Wort“ auf deutsch
im Thauros Verlag 1994. Es zeigt auf 1000 Seiten die Struktur der Bibel in
jüdischer Oberlieferung und gibt etwas vom Geheimnis preis, woher Weinreb
die Kraft zum Überleben nahm.
Neues Deutschland, 17./18. Dez. 1994, S. 13.