Friedrich WeinrebWeinrebs Liste
Kollaboration und Widerstand

Friedrich Weinreb nannte seine Kriegsmemoiren ein „gefährliches Buch“, das allerdings von sehr viel weniger Menschen gelesen wurde, als zum Beispiel „Schindlers
Liste“ Menschen in die Kinos zog. Und doch ist das Thema das gleiche: Jüdischer Widerstand gegen die Nazis war ohne Kollaboration nicht möglich.
Friedrich Weinreb täuschte die Nazis im großen Stil, indem er während des Zweiten Weltkrieges die nationalsozialistische Besatzermacht in Holland, namentlich die Wehrmacht und den Sicherheitsdienst (SD), geschickt gegeneinander ausspielte. Weinreb, der Ostjude aus Lemberg, brachte es fertig, dass zweimal ein Deportationszug, der für holländische Juden bestimmt war, leer nach Auschwitz fuhr.
Dabei begann das ganze mit einem Zufall. Ein Freund Friedrich Weinrebs hatte sich in Den Haag auf dem Arbeitsamt eingefunden, weil er einen Aufruf zum sogenannten „Arbeitseinsatz im Osten“, also den Deportationsbefehl erhalten hatte. Er wollte einen Aufschub erlangen und wurde abgewiesen. Dabei erlebte er, wie ein anderer Jude mit demselben Anliegen nicht abgewiesen wurde. Dieser Mann wies einige Urkunden vor, aus denen hervorging, dass er im neutralen Ausland Devisen für Deutschland zur Verfügung stellte und dass er aus diesem Grunde wahrscheinlich die Erlaubnis zur Emigration erhalten würde. Der zuständige Beamte sah die Dokumente kurz an, nickte „Jawohl, jawohl“ und meinte, dass in diesem Fall selbstverständlich Aufschub gewährt würde, damit von den Deutschen zunächst das Emigrationsersuchen geklärt werden könne. Der Mann wurde für ein halbes Jahr von der Deportation zurückgestellt, mit Aussicht auf Verlängerung.
Als Professor Weinreb diese Geschichte hörte, beschloss er, mit dem Bezirksarbeitsamt zu telefonieren. „Improvisierend“, wie er in seinen Memoiren schreibt, „das Gespräch würde sich schon entwickeln.“ Das Gespräch entwickelte sich in der Tat. Weinrebs resolutes Auftreten machte Eindruck. Er verlangte sogleich den Chef zu sprechen, der für die Ausweisung von Juden zuständig sei und stellte sich diesem mit größter Selbstverständlichkeit als „Dr. Weinreb, Fachmann für Jüdische Emigration“ vor. Seine profunden Kenntnisse in wirtschaftlichen Dingen kamen ihm zugute. „Der Mann war beeindruckt”, schreibt Weinreb. „Ich erzählte ihm, dass verschiedene meiner Fälle, die ich bei der Ein- und Ausreisestelle verträte, in Arbeitslager für Juden verschickt werden sollten, dass jedoch die Wehrmacht dies nicht wünsche, da diese Personen gegen Devisen ins Ausland emigrieren sollten.“ Weinreb hatte Erfolg, die von ihm genannten Personen wurden gesperrt.
Bald bekam der Jüdische Rat Wind von der Sache. Ihm hatten die Deutschen die Aufgabe zugewiesen, die Deportationstermine einzeln festzulegen. Der Rat erwähnte die Angelegenheit einmal gegenüber dem Sicherheitsdienst. Eine Wehrmachtsangelegenheit? Der SD gab nicht gerne seine Desinformiertheit zu, der zuständige SDler meinte nur: „Weinreb? Devisenemigration? Oh, die ist prima. Wir brauchen Devisen, bestimmt wird das klappen.“ Langsam entstand eine immer komplexere Konstruktion. Natürlich musste ein General in Berlin für das ganze zuständig sein – General Joachim von Schumann. Ein Papiergeneral, aber er funktionierte.
Weinreb fälschte Papiere und fingierte einen Brief des Generals. Der SD ließ ihn in Ruhe. Als 1942 die Deportationen begannen, wurden die Juden nicht mehr aufgerufen, sondern einfach abgeholt. Weinreb hatte zu dieser Zeit dreißig Menschen auf seiner Liste. Die Deportierten kamen zunächst ins Auffanglager Westerbork. Von dort aus erreichten Weinberg Telegramme, Hilferufe. Und Weinreb telegraphierte, bestätigte Sperrungen – und hatte Erfolg. Die von ihm Genannten wurden nicht weiterverschickt nach Auschwitz. Niemand wusste damals, was Auschwitz bedeutete, aber man fühlte, dass es sicherer war zu bleiben.
Nun schwoll die Weinreb-Liste schnell an. Es ist kaum vorstellbar, was es bedeutete, mit den Nazis dieses Spiel zu treiben. Weinreb hatte große Angst und musste doch immer ganz sicher auftreten. Er las in dieser Zeit oft die Psalmen, die Tehillim, die in Augenblicken der Gefahr zu lesen sind. Die Deutschen waren 1942 auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Sie zum Gegner zu haben, überstieg die Kräfte eines Einzelnen. Dass es ihm dennoch gelang, Menschen zu retten, erschien ihm wie ein Wunder. Er riet den Juden, sich nicht auf seine „Sperrungen“ zu verlassen, sondern so schnell wie möglich unterzutauchen, half bei der Beschaffung von Verstecken, Ausweisen, Geld.
Eines Tages wurde eine Jüdin, die mit seiner Hilfe untergetaucht war, gefasst. Sie gab an, Ausweise von Dr. Weinreb erhalten zu haben. Er wurde zum Sicherheitsdienst gebeten, leugnete aber alles. Geistesgegenwärtig bat Weinreb, den General aus Berlin da herauszuhalten, der könne sich nicht mit kleinen Jüdinnen abgeben. Vorerst hatte er Erfolg. Aber irgendwann wurde auch dem SD klar, dass es General von Schumann nicht gab. Weinreb war jedoch so glaubwürdig, dass man nun annahm, er sei auf eine Verschwörerbande hereingefallen, die das Reich untergraben und sich bereichern wollte. Der SD schlug Weinreb vor, die Fronten zu wechseln, und er ging darauf ein.
Es gab also weiterhin Einschreibungen auf der Weinreb-Liste, jetzt legal, mit Wissen des SD. Der Auftrag des SD an ihn lautete, von Schumann und andere Verdächtige anzulocken und auszuliefern. 1943 waren ungefähr tausend Juden durch die Weinreb-Liste für die Deportation gesperrt.
Schließlich flog die ganze Geschichte auf. Weinreb wurde verhaftet und gefoltert. Man schlug ihm die Zähne kaputt und brach ihm die Rippen. Er und seine Familie kamen nach Westerbork ins Übergangslager. Weiterdeportiert wurde er nicht. Später erfuhr er, dass sich ein anderer aus Dankbarkeit und Anerkennung für ihn nach Auschwitz hatte deportieren lassen. Nun trat erneut der SD an Weinreb heran. Der drohende Gesichtsverlust – man wollte nicht wahrhaben, dass man auf Weinreb alias von Schumann hereingefallen war – ließ die SDler an von Schumann festhalten. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Weinreb die ganze Geschichte erfunden hatte, die doch mit so vielen Menschen funktionierte. Es musste mehr daran sein. Nun wollten sie Weinreb in den Widerstand einschleusen, um die sogenannte „Schumann-Bande“ zu finden. Weinreb sah eine Chance für neue Rettungsaktionen und zeigte Entgegenkommen. Er schlug dem SD vor, untergetauchte reiche Juden, holländische Diamantenhändler, ausfindig zu machen und mitsamt ihren Diamanten gegen Deutsche, die in Portugal festgehalten wurden, einzutauschen. Um das Vertrauen der Untergetauchten zu erlangen, wurde wieder in Westerbork eine Liste mit gesperrten Personen aufgestellt, die angeblich zum Austausch nach Portugal sollten. Weinreb ließ tatsächlich – und dies mit Hilfe des SD – 1500 Personen sperren. In zwei Fällen mussten deshalb Deportationszüge leer nach Auschwitz fahren. Dass dieses Spiel mit dem Teufel nicht lange gut gehen konnte, war ihm klar. 1944 wurde er gewarnt und konnte im letzten Moment untertauchen. Er und seine Familie erlebten die Befreiung durch die Kanadier.
Es ist nicht klar, wieviele Menschen sich durch die Hilfe Friedrich Weinrebs retten und überleben konnten. Mehrere Hundert waren es auf jeden Fall. Doch seine Rettungsaktionen spielten sich in der Illegalität ab, im Zwielicht zwischen Widerstand und Kollaboration. Nach dem Kriege wurde er verhaftet. Da Weinreb sehr viel wusste, wurde zweimal ein Attentat auf ihn verübt, das er wie durch ein Wunder überlebte. Die niederländische Justiz warf ihm vor, er habe Gelder von Juden – die Einschreibung auf die Weinreb-Liste kostete 100 Gulden – für sich (dieser Vorwurf wurde im Urteil fallengelassen) oder zum Nutzen des SD verwendet; er habe Personen an den SD verraten usw. 1948 wurde Weinreb in letzter Instanz zu sechs Jahren Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung steht der seltsame Satz, „dass es die Rechtsordnung nicht gestattet, wenn irgendein Mensch im Vertrauen auf eigenes Können und nach eigenem moralischem Maßstab über Leben und Schicksal anderer verfügt.“
Der Kriegshistoriker Prof. J. Presser fragt in seinem Werk „Untergang. Die Verfolgung und Vernichtung des niederländischen Judentums 1940-1945“ zu Recht: „Welcher Illegale verfügte nicht über Leben und Schicksal der anderen, im Vertrauen auf eigenes Können und mit eigenem moralischem Maßstab? Illegale – was machten denn manche Legale anderes?“ Kollaboration und Widerstand ... Jeder Jude, erinnert Presser, war „damals ein zum Tode Verurteilter“ – ohne Ausnahme. Allein diese Tatsache hätte den Richtern vor Augen führen müssen, dass der illegale Krieg gegen die Nazis nach ganz anderen Maßstäben hätte beurteilt werden müssen. Weinreb selbst hat sich später nie um seine Rehabilitierung gesorgt. Er war der Meinung, dass in dieser Angelegenheit „irdische Richter“, wie er sie nannte, gar nicht richten könnten. An deren Urteil ist er auch nicht zerbrochen; denn Weinreb war ein tief im jüdischen Glauben verwurzelter Mensch.
In den 60er Jahren erschienen in Holland »Kollaboration und Widerstand», Weinrebs Kriegsmemoiren (deutsch: Die langen Schatten des Krieges), ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Stadt Amsterdam. Sie erregten ein solches Aufsehen, dass Weinreb es vorzog, außer Landes zu gehen. Er starb in der Schweiz 1988 im Alter von 78 Jahren.
Thomas Illmaier

Factum, 6/1997, S. 42-43.

 

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