Friedrich
Weinreb: Nationalökonom und jüdischer Religionsphilosoph
Leben aus dem Gebet
Wie kann man einen Menschen vorstellen, der sich gängigen
Maßstäben entzieht und in der Wirtschaftswissenschaft ebenso zu
Hause ist wie in der Religionsphilosophie? Die Rede ist von Friedrich Weinreb,
einem Juden, der im deutschsprachigen Raum ein Unbekannter geblieben ist,
obwohl aus seinem schriftstellerischen Gesamtwerk immerhin schon fast dreißig
Titel in deutscher Sprache erschienen sind.
Weinreb, 1919 in
Lemberg geboren, kommt bereits als Sechsjähriger in die Niederlande.
Er studiert Nationalökonomie und Statistik in Rotterdam und Wien. Zwischen
1932 und 1942 arbeitet er zunächst als wissenschaftlicher Referent, später
als Forschungsleiter und Dozent am Niederländischen Ökonomischen
Institut in Rotterdam. Während der Besetzung der Niederlande durch Hitler-Deutschland
leistet er aktiven Widerstand, wird verhaftet, kommt ins Lager, kann fliehen
und lebt schließlich im Untergrund. Nach dem Krieg, bis in die sechziger
Jahre hinein lehrt Weinreb in Djakarta, Kalkutta und in Ankara, wo er als
Rektor und Dekan an der Middle East Technical Universität amtiert. Schließlich
übernimmt er eine Tätigkeit beim Internationalen Arbeitsamt und
bei den Vereinten Nationen in Genf. Vor allem auf dem Gebiet der mathematischen
Statistik und der Konjunkturforschung erwirbt sich Weinreb große Verdienste.
Doch schon seit seiner
Studienzeit gilt sein Augenmerk in nicht geringem Maße den Quellen jüdischen
Wissens, wozu er aufgrund seiner chassidischen Herkunft eine enge Beziehung
hat. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit, in der seine Kriegserlebnisse
ihren Niederschlag finden (sein dreibändiges Werk „Ko1laboration
und Widerstand“ wird zu einem Bestseller, für den er den Literaturpreis
der Stadt Amsterdam erhält), nimmt die Behandlung religiöser Fragen
immer mehr Raum ein. Seit einem Jahr liegt nun endlich ungekürzt in deutscher
Sprache sein Hauptwerk vor: In seinem 800seitigen Buch „Schöpfung
im Wort“ (Thauros Verlag, Weiler im Allgäu) erläutert Friedrich
Weinreb die Struktur der Bibel in der jüdischen Überlieferung. Nicht
weniger bedeutend sind Titel wie „Das jüdische Passahmahl. Und
was dabei von der Erlösung erzählt wird“ sowie „Was
ist beten? Lebenskunst als Gebet“ (beide Bände sind im Thauros
Verlag erschienen).
„Mein Gebet, das bin ich“, schreibt Weinreb und fügt hinzu:
„Eben dieses Gebet, das du selbst bist, bestimmt dein Verhalten.“
Sind also, so könnte man fragen, Störungen in der menschlichen Psyche
Gebetsstörungen? Wenn Weinreb über die Bibel schreibt, dann sieht
er in der Heiligen Schrift nicht ein wissenschaftliches Objekt, sondern versteht
sie als ein Gefäß, in dem sich Gottes Weisheit als Medizin für
Leib, Seele und Geist anbietet – vorausgesetzt, der Mensch ist dafür
aufgeschlossen.
Und noch ein Thema,
das Weinreb, der 1988 in Zürich starb, sein Leben lang begleitete: die
Traumdeutung. „Wie der Traum sich baut, so baut sich auch das Leben.
Man kann weder Traum noch Leben mit dem kühlen Verstand analysieren und
dann verstehen“, schreibt er in seinem Buch „Traumleben“.
Ohne die Beziehung zu allem in der Welt, ohne die Sehnsucht, die alles in
einer überwältigenden Einheit erfahren möchte, könne man
nicht verstehen. „Vielleicht wäre es ein Weg der Zukunft, in den
Erlebnissen der wissenschaftlichen Untersuchungen, des Studiums, des Denkens
und Experimentierens mehr zu träumen“, empfiehlt er. „Dieses
Träumen aber nicht wahllos über sich kommen zu lassen, sondern zu
bedenken, daß der Ausgangspunkt des wahren Träumens die Sehnsucht
nach Beziehungen zu allen und allem der Welt ist. Und daß diese Beziehungen
eine tiefe menschliche Wärme brauchen, daß also Liebe zum Leben
und zur Welt grundlegend ist.“ Friedrich Weinreb, ein Dichter und Denker,
der vielleicht doch eines Tages wiederentdeckt wird.
Thomas Illmaier
Der Autor im Thauros Verlag
Bücher, die in das religiöse Denken des Philosophen einführen:
,,Schöpfung im Wort. Die Struktur der Bibel in jüdischer Überlieferung“
(98 DM); “lnnenwelt des Wortes im Neuen Testament. Eine Deutung aus
den Quellen des Judentums“ (45 DM); „Die Symbolik der Bibelsprache.
Einführung in die Struktur des Hebräischen” (28 DM); „
Frömmigkeit heute. Eine Wende zum neuen Menschen“ (25 DM); „Hat
der Mensch noch eine Zukunft?“ (23 DM); ,,Das Wunder vom Ende der Kriege.
Erinnerungen 1942-1945“ (78 DM); ,,Die Haft. Erinnerungen von 1954-1948“
(45 DM); ,,Meine Revolution. Erinnerungen von 1945-1987“ (78 DM); „Die
langen Schatten des Krieges“ (3 Bände, zusammen 128 DM); „Traumleben.
Uberlieferte Traumdeutung“ (4 Bände, jeweils 35 DM).
Bild: Friedrich Weinreb, 1910 in Lemberg geboren, 1988 in Zürich gestorben.
RHEINISCHER MERKUR extra, 23/1995, S. VIII.