Suche nach Geborgenheit

Als Appetitzügler ließ sich die deutsche Arzneimittelfirma Merck 1912 vom Kaiserlichen Patentamt in Berlin das Mittel MDMA (3,4-Methyendioxymethamphetamin) patentieren. Damals ahnte niemand, daß diese Substanz 80 Jahre später als Medikament zur Bewußtseinserweiterung unter dem Namen ,,Ecstasy“ berühmt werden sollte. Heute ist Ecstasy die Nr. 1 der Drogen vor allem unter Jugendlichen.
Über die Folgen des Ecstasy-Gebrauchs informiert ein Buch aus dem schweizer Verlag Edition Heuwinkel. Der Verfasser, Samuel Widmer, ist Arzt, Psychotherapeut und ausgewiesener Spezialist auf diesem Gebiet. Widmer ist Mitglied der Schweizerischen Ärztegesellschaft für psycholytische Therapie und einer der Ärzte, die in den Jahren. 1987 bis 1993 mit behördlicher Unterstützung LSD und Ecstasy als therapeutische Mittel in der Psychotherapie erprobten.
Die Erfahrungen mit dem therapeutischen Nutzen sind sehr positiv. Widmer: ,,Die Wirkung beginnt durchschnittlich vierzig Minuten nach der Einnahme... Sie dauert zirka sechs bis acht Stunden. MDMA bewirkt eine Offenheit, vor allem in der Herzregion, macht dich ungehemmter, offener, kommunikativer, weckt Mitgefühl und Herzlichkeit in dir. Es macht dich auch wacher, aufmerksamer und gibt dir ein Gefühl von Intensität.“ Für die Psychotherapie ist MDMA ein wichtiges Medikament, das dem Therapeuten und dem Klienten ermöglicht, Verdrängtes bewußtwerden zu lassen und so die psychische Erkrankung zu behandeln.
Der Gebrauch von MDMA im Abstand von drei bis vier Monaten bei einer normalen Dosierung von 125 mg ist nicht schädlich. Häufigerer Gebrauch kann jedoch Folgeschäden bewirken. Widmer an die Adresse des jugendlichen Konsumenten: ,,Wenn du es aber mehr oder weniger jedes Wochenende, über eine Zeit von zehn Jahren und häufig mehrmals am Wochenende und hoch dosiert einnimmst, wirst du ganz bestimmt eine Schädigung deines Nervensystems verursachen und im Alter darunter leiden.“ Und das Alter, orakelt Widmer, beginne ,,nicht erst mit siebzig Jahren, sondern mit dreiundzwanzig.“
Da Ecstasy ursprünglich als Appetitzügler patentiert wurde, vergehen zudem Hunger und Durst nach der Einnahme. Stundenlanges Tanzen und Lightshows schalten die Warnsysteme des Körpers ab. Der Ecstasykonsument vergißt dann zu trinken, was Hitzeschläge zur Folge haben kann.
Widmers Analyse der Ecstasy-Phänomene bleibt nicht an der Oberfläche stehen. Die westlich geprägten Zivilisationen mit ihrem Konsumdenken hätten eine ausgeprägte Suchtstruktur entwickelt. Der Leistungsgesellschaft fehle es an Liebe. Deshalb greifen die Menschen nach Ersatzmitteln, was sich dann zur Sucht ausweiten kann. Wenn Jugendliche zu Drogen greifen, wiederhole sich das Suchtverhalten nur unter verändertem Vorzeichen. Besonders nach der Einnahme von Ecstasy fehle es gewöhnlich an echtem Wir-Gefühl. Nach Widmers Beobachtungen sind zwar sehr viele Ecstasykonsumenten ,,sympathische Menschen, aber erschreckend in ihrem Verlorensein. Viel Härte war auch spürbar“, diagnostiziert der Arzt und: ,,viel Angst... Letztlich schienen alle auf der Suche nach Heimat, nach Nähe und Geborgenheit, welche hier einfach nirgends zu finden war.“
An sich kann Ecstasy nach Erfahrungen der schweizer Ärzte Liebe und Mitgefühl wecken, wenn es unter sachkundiger Anleitung und in persönlicher Atmosphäre eingenommen wird. Es kann therapeutisch sehr wirksam sein, weil es auf sanfte Art das Unbewußte öffnet. Anstelle von jahrelangen Gesprächstherapien, die kaum noch bezahlbar sind, kann Ecstasy helfen, schneller einen Zugang zu den Problemen zu finden. Es verändert aber nicht die Ursachen der Probleme, die zivilisationsbedingtem und kurzsichtigem politischem Denken entspringen. So werden ,,Gier, Ehrgeiz und Macht“ (Widmer) das Handeln des Menschen auch weiterhin beherrschen. Es sei denn, man fördert gesellschaftliche Erfahrungsräume, in denen sich das wiederentdeckte Bewußtsein, das aus den Ecstasy Erfahrungen erwächst, manifestieren und kultiviert werden kann.
,,Das ist es, was uns fehlt, das ist es, woran wir kranken: am Mangel an Liebe. Kirchen müßten nicht um tote Rituale herum gebaut werden, auch nicht um einen Stoff wie Ecstasy, sondern um die liebende Gemeinschaft herum, um sie zu halten, zu tragen, zu beschützen.“ Wenn jedoch auch die Ecstasy-Konsumenten letztenendes von der sozial vorherrschenden Suchtstruktur aufgesogen werden, besteht nicht sehr viel Hoffnung auf einen Bewußtseinswandel.
Und gegen die Sucht wendet sich Widmers Buch ganz vehement; denn die Ecstasy-Vision bleibt Utopie, wenn nicht „das Geschaute ins Leben integriert wird“. Widmer geht davon aus, daß der Ecstasy-Gebrauch trotz Verbotes nicht eingedämmt werden könne, wenn nicht entsprechende Aufklärung direkt an die Konsumenten herangebracht werde. Der Rat des Therapeuten an die experimentierfreudigen Jugendlichen: ,,Das Wichtigste auf jedem Trip ist, herauszufinden, wie wir dieselbe Öffnung im Normalzustand bewirken können... Sonst wird man abhängig von diesen Substanzen.“
Wer sich angesichts des Ecstasy-Phänomens nicht in die eigene Ohnmacht hineinmanövrieren will, dem sei Samuel Widmers Buch – vor allem Lehrern, Eltern und Kindern – empfohlen.

Thomas Illmaier

Samuel Widmer: Ecstasy – Die User-Fibel. Illustrationen und Bildgeschichten von Pierre Wazem und Joseph Hanhart. Basel/Genf Edition Heuwinkel, 1996, Hardcover, 170 S., 39 Mark.

DER WEG, 35/1997, S. 8.

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