Wege
aus der Glaubenskrise
Religiöse Konflikte sind nicht selten auch seelische Turbulenzen
und umgekehrt. Psychiatrische Hilfe geht verschiedene Wege
Von Thomas Illmaier
Schwester L., 46jährige Leiterin eines Ordensseminars,
wurde auf dem Heimweg von Exerzitien, in denen alte Beziehungskonflikte und
ein beschämendes Verhältnis neu aufgebrochen waren, akut psychotisch
mit Verwirrung und Wahnstimmung: Sie interpretierte die Stimme des Schaffners
als letzte Gerichtsrede und glaubte, der Lautsprecher verkünde die Zugentgleisung.
Schwester L., über deren Erkrankung man in der Zeitschrift ,,Schweizer
Archiv für Neurologie und Psychiatrie“ (Heft 5/1993) nachlesen
kann, konnte mit Hilfe von Medikamenten und psychotherapeutischer Behandlung
wiederhergestellt werden. Dennoch erlitt sie zweimal einen Rückfall und
mußte stationär behandelt werden. Sie verlor Ihre leitende Stellung
im Ordensseminar, konnte jedoch wieder in die klösterliche Gemeinschaft
integriert werden.
Bei diesem Beispiel
handelt es sich um keinen Einzelfall, wie aus dem gemeinsamen Beitrag ,,Zur
Psychopathologie in Frauenklöstern“ von Schwester Raphaela Falcioni
und Professor Christian Scharfetter, Extraordinarius für Psychiatrie
an der Universität Zürich, hervorgeht, der in dem schon genannten
Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie veröffentlicht wurde.
Scharfetter und Falcioni, selbst Ordensschwester und Psychiaterin, widmen
sich seit längerem Fällen von religiös-spiritueller Krise.
Christian Scharfetter,
zum führenden Gremium der Forschungsdirektion der psychiatrischen Universitätsklinik
Zürich gehörig, hat das Thema ,,Gotteskrise“ in seinem Buch
,,Der spirituelle Weg und seine Gefahren“ (Enke Verlag, Stuttgart) 1993
erneut ausgebreitet. Auf dem vom Europäischen Collegium für Bewußtseinsstudien
– ECBS – einberufenen Symposion ,,Perspektiven der Bewusstseinsforschung“
in Zürich referierte Scharfetter im Dezember 1993 über sein Forschungsgebiet.
Auch dort lautete das Thema: „Religiös-spirituelle Krisen“.
Für Scharfetter hat der Mensch grundsätzlich zwei Möglichkeiten,
innere Konflikte zu lösen: ,,Die gute Lösung aus dem inneren Konflikt
ist die religiöse Erfahrung (...) die schlechte die Psychose.“
Nach seiner Erfahrung ist die psychische Krise, in die der Mensch durch starke
existentielle Belastung geraten kann, stets voller Themen, die des Menschen
letzte Wahrheiten betreffen: Tod und Wiedergeburt, Weltuntergang und Weltschöpfung,
Schöpfer und Geschöpf, Sender und Gesandter, Gut und Böse,
Schuld und Sühne, Krankheit und Heilung, Ausgesetztsein und Aufgehobensein,
Getrenntsein und Einssein. Diese religiösen Grundthemen der Menschheit
treten bei seelischen Krisen von religiös Suchenden, aber auch als religiöse
Krisen von Psychotikern auf. ,,Der Psychiater ist“, so gesteht Scharfetter
ein, ,,von seiner üblichen Ausbildung her schlecht vorbereitet auf die
angemessene Beurteilung solcher Krisen und auf ihre adäquate Betreuung.“
Er warnt jedoch vor einer allzu frühen Psychopathologisierung religiös-spiritueller
Krisen, in der die Betroffenen als geisteskrank beurteilt werden. Denn was
auf den ersten Blick psychotisch anmutet, kann sich bei näherer Hinsicht
als die gute Lösung, die der religiösen Erfahrung, klären.
In seinem Buch ,,Der
spirituelle Weg und seine Gefahren“ beschreibt Scharfetter das Erscheinungsbild
der religiös-spirituellen Krise, er zeigt Beratungs- und Therapiemöglichkeiten.
Am Beispiel des Johannes vom Kreuz und seiner ,,dunklen Nacht der Seele“
sowie an der Erfahrung der Akedía (Sorglosigkeit, Lieblosigkeit) des
Griechen Evagrios Pontikos, eines Vertreters des frühen christlichen
Mönchstums, werden die psychischen Gefahren geschildert, in die der Gottessucher
geraten kann. Für den die psychische Krise deutenden Psychiater besteht
häufig die Gefahr, daß er die religiös-spirituelle Krise nicht
als religiöse Erfahrung und damit als guten Teil des religiösen
Konfliktes erkennt.
Für den Psychiater
sind ,,Höllenqualen“, die schizophrene Menschen erleiden, nichts
Ungewöhnliches. Meist werden Schizophrene dadurch behandelt, daß
der schizophrene Prozeß zum Beispiel durch Psychopharmaka gestoppt und
schließlich ausgelöscht wird. Scharfetter jedoch dringt auf ,,einfühlsames,
achtsames, um Verstehen bemühtes Dabeisein und Hindurchbegleiten“
durch den Psychiater. Dieser muß umlernen: Eine engstirnige, nur auf
das Krankheitsbild ausgerichtete Diagnostik wird der inneren Entwicklung der
Person des Patienten nicht gerecht. Nach dem Symposion ,,50 Jahre LSD“
der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften (Lugano 1993)
und dem schon erwähnten Symposion des ECBS ,,Perspektiven der Bewusstseinforschung“
ist das Interesse an den bewusstseinserweiternden Drogen wie LSD, Psilocybin,
Meskalin auch öffentlich wieder erwacht. Diese Drogen können offenbar
Menschen helfen, die eine Gotteskrise durchmachen, ohne diese Krise zu unterdrücken,
wie dies herkömmliche Psychopharmaka tun. Professor Scharfetter fragt
sich jedoch, ob religiöse Erfahrungen, wie sie unter dem Einfluss von
LSD, Psilocybin oder Meskalin auftreten, in das Alltagsleben integriert werden
können. Wird das Rauscherlebnis nämlich nicht durch religiöse
Praxis gefestigt, verliert es nachhaltig an Wirkung.
An ein klassisches
Experiment auf diesem Gebiet erinnerte auf dem Symposium der Bewusstseinsforscher
der Hamburger Ethnologe Christian Rätsch in seinem Beitrag ,,Die LSD-Kultur“.
In den sechziger Jahren hatte Walter Pahnke, Director of Clinical Sciences
am Maryland Psychiatric Research Center, USA, in seinem berühmt gewordenen
,,Karfreitagsexperiment“ einer Experimentalgruppe Psilocybin in einem
religiösen Milieu verabreicht. Pahnke beschreibt sein Experiment in dem
vom Psychiater Hanscarl Leuner und dem Theologen Manfred Josuttis, beide Professoren
an der Universität Göttingen, herausgegebenen Buch ,,Religion und
die Droge“ (Kohlhammer Verlag, 1972) so: ,,In einer Privatkapelle hörten
an einem Karfreitag zwanzig Theologiestudenten, von denen zehn Psilocybin
anderthalb Stunden früher bekommen hatten, über Lautsprecher einem
zweieinhalbstündigen Gottesdienst zu, der in einem anderen Teil des Gebäudes
stattfand und aus Orgelmusik, vier Soli, Lesungen, Gebeten und persönlicher
Meditation bestand.“
Die Studenten der
Experimentalgruppe, der Psilocybin verabreicht wurde, erfuhren interne Einheit,
Transzendenz von Zeit und Raum, Paradoxien und angeblich Unaussprechliches,
tief empfundene positive Stimmungen, Heiligkeit. Die Kontrollgruppe, die kein
Psilocybin erhalten hatte, erlebte die genannten Erfahrungen ebenfalls, jedoch
kaum so intensiv. Für Christian Scharfetter besteht deshalb kein Zweifel,
daß religiöse – er nennt sie „mystikoforme“ –
Erfahrungen, ausgelöst und verstärkt durch LSD, Psilocybin oder
ähnliche Drogen, authentisch sind.
Psychiater und Theologen
müssen außergewöhnliche Bewußtseinszustände ernst
nehmen. Das widerspricht der protestantischen Grundauffassung, daß religiöse
Erfahrungen, auch von Drogen ausgelöste, schon deshalb abzutun sind,
weil nach diesem Verständnis christlicher Glaube nicht aus religiöser
Erfahrung erwächst. Gegen diese Vorstellung wendet sich der Göttingen
Theologieprofessor Josuttis in dem zusammen mit Hanscarl Leuner herausgegebenen
Buch „Religion und die Droge“. Er fragte: „Wie kann ein
Glaube existieren, der sich der Wirklichkeit seines Gegenstandes und Grundes
nicht durch Erfahrung zu vergewissern imstande ist?“
Das vom Europäischen Collegium für Bewußtseinsstudien herausgegebene
vierbändige Werk „Welten des Bewusstseins“ (Verlag für
Wissenschaft und Bildung, l994) läßt auch den Münchner Theologieprofessor
Joseph Sudbrack SJ und den Benediktinerpater Willigis Jäger OSB aus Würzburg
zu Wort kommen. Sie wollen den Hunger nach Erfahrung der Religionen in einer
Zeit, die „geprägt ist von der Erfahrung der Nichterfahrbarkeit
Gottes“ (Josuttis), stillen, indem sie die Wege einer modernen christlichen
Mystik weisen; denn Kirchen, Bischöfe, Seelsorger sind zunehmend inkompetent,
religiöse Erfahrung zu vermitteln.
Sudbrack und Jäger
sprechen sich für eine Mystik aus, wie sie Scharfetter als Schnittmenge
zwischen religiöser und spiritueller Erfahrung versteht. Religiös
ist für Scharfetter eine Erfahrung, die auf das Heilige gerichtet ist,
während er spirituell auch andere mystikoforme Erfahrungen nennt, die
ein Bewußtsein wecken, das in seiner „Entwicklung, Entfaltung
über das individuelle, ichhafte Alltagsbewußtsein“ hinausgeht.
Sowohl Sudbrack als
auch Jäger berufen sich bei ihrer Gottesmystik auf Karl Rahner. Ihm zufolge
muß der “Christ der Zukunft ein Mystiker sein oder er wird nicht
mehr sein“.
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 3. Juni 1994, S. 17.